Was ist Introvert Leadership?

Intro­ver­sion ist ein stabi­les Persön­lich­keits­merk­mal und Bestand­teil des Big Five bzw. OCEAN-Modells. Obwohl 30% bis 50% aller Perso­nen eher intro­ver­tiert sind, sind Intro­ver­tierte in Führungs­po­si­tio­nen unter­re­prä­sen­tiert. Und das, obwohl intro­ver­tierte Persön­lich­kei­ten Führungs­qua­li­tä­ten mitbrin­gen, die in einer komple­xen und dyna­mi­schen Arbeits­welt den Unter­schied machen können.

Intro­vert Leader­ship ist ein Führungs­stil, der auf den Stär­ken, Denk­wei­sen und Kommu­ni­ka­ti­ons­for­men intro­ver­tier­ter Persön­lich­kei­ten basiert. Im Gegen­satz zum weit­ver­brei­te­ten Verständ­nis von Führung, das eher extro­ver­tierte Eigen­schaf­ten wie Durch­set­zungs­stärke, Domi­nanz oder kommu­ni­ka­tive Präsenz betont, liegt beim Intro­vert Leader­ship der Fokus auf:

  • Refle­xion und gründ­li­che Analyse von Entschei­dun­gen
  • Akti­ves Zuhö­ren, um fundiert Entschei­dun­gen tref­fen zu können und persön­li­che Entwick­lung der Mitar­bei­ten­den zu ermög­li­chen
  • Selbst­füh­rung als Basis der Führung
  • Ruhige Kommu­ni­ka­tion, die Raum für Entfal­tung der Poten­ziale für Mitar­bei­tende gibt

 Was sind typische Merkmale von Introvert Leadership?

1. Hohes Maß an Selbst­re­fle­xion
Intro­ver­tierte Führungs­kräfte denken nach, bevor sie handeln. Sie sind sich ihrer Wirkung bewusst, nehmen sich selbst nicht zu wich­tig – und stre­ben nach stim­mi­gen, werte­ba­sier­ten Entschei­dun­gen.

2. Akti­ves Zuhö­ren & Empa­thie
Sie hören zu – nicht nur, um zu antwor­ten, sondern um zu verste­hen. Das fördert Vertrauen, psycho­lo­gi­sche Sicher­heit und tiefe Verbin­dung im Team.

3. Ruhige Führung
Intro­ver­tierte wirken nicht durch Laut­stärke, sondern durch Authen­ti­zi­tät, Ruhe und Konse­quenz. Sie sind verläss­lich und geben Orien­tie­rung, ohne in den Vorder­grund zu drän­gen.

4. Förde­rung von Poten­zia­len
Sie stel­len sich nicht selbst in den Mittel­punkt, sondern ermög­li­chen ande­ren, zu wach­sen, indem sie mit einer coachen­den Grund­hal­tung führen und damit die Poten­zi­al­ent­fal­tung ihres Teams fördern.

5. Stra­te­gi­sche, analy­ti­sche Entschei­dun­gen
Dank ihrer reflek­tier­ten Art, denken intro­ver­tierte Führungs­kräfte lang­fris­tig, syste­misch sowie analy­tisch und haben so den nach­hal­ti­gen Erfolg im Blick.

 Wann ist Introvert Leadership besonders wertvoll?

  • In Krisen­si­tua­tio­nen, in denen ruhi­ges, über­leg­tes Handeln gefragt ist
  • Bei Inno­va­ti­ons­pro­zes­sen, die gründ­li­che Analyse und kriti­sche Refle­xion benö­ti­gen
  • Wissens­ar­beit & Exper­ten­teams, bei denen Vertrauen wich­ti­ger ist als Auto­ri­tät
  • Kultu­rel­ler Wandel, der nicht durch Macht, sondern durch Sinn entsteht
  • Führung von reifen und proak­ti­ven Teams

Selbst­be­wusst intro­ver­tierte Führungs­kräfte fördern psycho­lo­gi­sche Sicher­heit, weil sie Räume öffnen, statt sie zu füllen, tref­fen über­legte Entschei­dun­gen, statt sich von Aktio­nis­mus trei­ben zu lassen, stär­ken Teams, indem sie aktiv zuhö­ren und sie fördern und binden Talente, weil sie die Entwick­lung der Mitar­bei­ten­den in den Mittel­punkt stel­len.

Eine gesunde Führungs­kul­tur braucht Viel­falt, auch in Bezug auf Persön­lich­keit. Intro­ver­sion und Führung sind kein Wider­spruch. Intro­vert Leader­ship ist deshalb eine Form von Führung, die die Stär­ken extro­ver­tier­ter Führungs­kräfte opti­mal ergänzt.

 Wie können introvertierte Führungskräfte durch Coaching gezielt gefördert und entwickelt werden?

Intro­ver­tierte haben andere Lern- und Denk­pro­zesse und reagie­ren anders auf Reize als Extra­ver­tierte. Unter­schiede zwischen Extro­ver­tier­ten und Intro­ver­tier­ten zeigen sich nicht nur daran, dass sie aus unter­schied­li­chen Quel­len Ener­gie bezie­hen, sondern auch darin, dass sie unter­schied­lich auf Reize reagie­ren. Intro­ver­tierte zeig­ten in verschie­de­nen Studien, dass sie stär­ker auf Reize reagie­ren und bei einem Reiz­le­vel, das Extro­ver­tier­ten Ener­gie gibt, über­sti­mu­liert werden.

Die erhöhte Reiz­emp­find­lich­keit hat Auswir­kun­gen auf die Denk- und Leis­tungs­fä­hig­keit. So haben Intro­ver­tierte eine gerin­gere Schall­to­le­ranz und arbei­ten besser bzw. erzie­len bessere Ergeb­nisse, wenn sie in Ruhe ohne Musik oder mit nied­ri­gem Geräusch­pe­gel arbei­ten bzw. Aufga­ben lösen. Während Extro­ver­tierte schnel­ler in einer Umge­bung mit Geräu­schen als in einer leisen Umge­bung arbei­ten, leiden Intro­ver­tierte in der glei­chen Umge­bung an Konzen­tra­ti­ons­pro­ble­men und Erschöp­fung. Deshalb bevor­zu­gen Intro­ver­tierte beim Lernen und Arbei­ten eine Umge­bung mit gerin­ge­rem Geräusch­pe­gel, wobei die besten Lern­ergeb­nisse erzielt werden, wenn der Geräusch­pe­gel indi­vi­du­ell ausge­wählt wird.

Deshalb braucht es einen spezi­ell auf die intro­ver­tier­ten Bedürf­nisse zuge­schnit­te­nen Coaching- und Entwick­lungs­pro­zess.

 Die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für das Coaching von Introvertierten

Während Extro­ver­tierte unter Stimu­la­tion und Stress bessere Leis­tun­gen zeigen, ist bei Intro­ver­tier­ten das Gegen­teil der Fall. Intro­ver­tierte profi­tie­ren von einer wenig stimu­lie­ren­den Umge­bung. Folg­lich sind zu viel Reize und zu viel Stimuli ebenso wie Stress beim Coaching intro­ver­tier­ter Coachees möglichst zu vermei­den, um den Zugriff auf deren Ressour­cen nicht abzu­schnei­den und die kogni­tive Leis­tungs­fä­hig­keit nicht zu beein­träch­ti­gen. Ebenso ist beim Coaching zu berück­sich­ti­gen, dass Intro­ver­tierte nega­tiv auf Stress reagie­ren bzw. Stress die Lern- und Arbeits­er­geb­nisse beein­flusst, weil Intro­ver­tierte insge­samt eine längere Reak­ti­ons­zeit haben, also lang­sa­mer Entschei­dun­gen tref­fen.

Entspre­chend sind der Coaching­pro­zess und die vom Coach ange­wand­ten Coaching­me­tho­den so zu wählen, dass der intro­ver­tierte Coachee in seiner Kraft und Leis­tungs­fä­hig­keit bleibt. Das erfor­dert eine hohe Empa­thie des Coachs und pass­ge­naue Steue­rung des Coaching­pro­zes­ses. Auch zeigen Studien, dass Intro­ver­tierte zunächst lang­sa­mer Aufga­ben lösen und erst mit fort­schrei­ten­der Zeit­dauer schnel­ler bei der Aufga­ben­lö­sung werden. Zudem haben sie bei Problem­lö­sun­gen ein länge­res Durch­hal­te­ver­mö­gen als Extra­ver­tierte. Deshalb schnei­den Intro­ver­tierte nicht nur mit fort­schrei­ten­der Zeit­dauer sondern auch mitzu­neh­men­der Schwie­rig­keit besser ab als Extra­ver­tierte. Intro­ver­tierte zeich­nen sich also durch die Fähig­keit, sich in komplexe Problem­stel­lun­gen rein­zu­den­ken, Durch­hal­te­ver­mö­gen und dadurch aus, gründ­li­cher über Problem­stel­lun­gen nach­zu­den­ken.

Über­tra­gen auf Coaching bedeu­tet das, dass intro­ver­tierte Coachees Zeit für die Lösung bzw. Bear­bei­tung im Coaching benö­ti­gen. Intro­ver­tierte benö­ti­gen Zeit für sich, um den erhal­te­nen Input zu sortie­ren und zu verar­bei­ten, weil sie zunächst ausgie­big analy­sie­ren wollen, bevor sie sich äußern. Und selbst wenn im Coaching die Zeit gege­ben würde, könnte das eine Stimu­la­tion und ein Stress­le­vel auslö­sen, was die Lösungs­fin­dung erschwert. Die Stärke eines Intro­ver­tier­ten, die sich in reflek­tier­ter und tief­grün­di­ger Problem­lö­sung zeigt, bliebe unge­nutzt und der Coachin­g­er­folg wäre gefähr­det.

Deshalb ist der Einsatz von Selbst­coa­ching-Elemen­ten beim Coaching von Intro­ver­tier­ten wich­tig, um ausrei­chend Zeit für den Denk- und Lern­pro­zess zu geben, zu ermög­li­chen, dass er die für sich passende Umge­bung und damit Reize in der Umge­bung wählen kann und von der Stärke zu profi­tie­ren, dass Intro­ver­tierte erst mit zuneh­men­der Zeit­dauer und Beschäf­ti­gung einer Problem­stel­lung ihr volles Poten­tial ausschöp­fen.

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