Was wir wirklich brauchen, ist Tiefe
In einer Welt voller Lifehacks, „toxischer Menschen“-Listen und Instant-Selbstoptimierung wird eines zunehmend zur Rarität: Tiefe. Wir wollen verstanden werden – am besten in 280 Zeichen. Wir wollen wachsen – aber bitte schmerzfrei. Und wir wollen authentisch sein – so lange es Likes bringt.Doch während der Zeitgeist uns schnelle Lösungen verspricht, hat ein gewisser Schweizer Psychoanalytiker schon vor über 100 Jahren beschrieben, woran viele dieser Rezepte scheitern: Sie ignorieren die Tiefe unseres Menschseins.
Doch während der Zeitgeist uns schnelle Lösungen verspricht, hat ein gewisser Schweizer Psychoanalytiker schon vor über 100 Jahren beschrieben, woran viele dieser Rezepte scheitern: Sie ignorieren die Tiefe unseres Menschseins.Carl Gustav Jung sprach nicht von Red Flags oder Narzissmus-TikToks. Er sprach von Archetypen, Schatten und dem Selbst. Konzepte, die heute fast esoterisch anmuten – und gleichzeitig eine atemberaubende psychologische Klarheit haben.
Carl Gustav Jung sprach nicht von Red Flags oder Narzissmus. Er sprach von Archetypen, Schatten und dem Selbst. Konzepte, die heute fast esoterisch anmuten – und gleichzeitig eine atemberaubende psychologische Klarheit haben.
Der Schatten: Du bist nicht nur, was du postest
Ein zentraler Gedanke Jungs: Jeder Mensch trägt einen Schatten. Und der ist nicht das, was auf Instagram unter #DarkFeminine läuft. Es sind unsere verdrängten Anteile – Neid, Wut, Angst, Schwäche –, die wir bei anderen verachten und bei uns selbst nicht sehen wollen. Solange wir uns mit unserer “hellen Seite” identifizieren, leben wir nur halb. Die Auseinandersetzung mit dem Schatten ist unbequem – aber heilsam. Wer sie meidet, kämpft nicht selten gegen sich selbst, getarnt als Weltverbesserer oder Karrierist.
Die Persona: Die Maske, die uns schützt – und begrenzt
Wir alle tragen Masken. Beruflich, privat, manchmal sogar im Schlaf. Die Persona ist laut Jung eine Rolle, die wir spielen, um in Gesellschaft zu funktionieren. Sie ist nötig – aber nicht alles. Verwechseln wir sie mit unserem wahren Selbst, werden wir zu Karikaturen unserer Funktion: der taffe Chef, die empathische Therapeutin, der visionäre Gründer. Die Frage ist: Wann war ich das letzte Mal nicht jemand, sondern einfach ich?
Individuation: Werde, der du bist
Jung beschreibt einen Prozess, der nicht auf Effizienz, sondern auf Integration zielt: Die Individuation. Es geht nicht darum, „besser“ zu werden, sondern ganz. Das bedeutet, innere Widersprüche nicht wegzukorrigieren, sondern zu verstehen. Nicht: „Ich muss meine Schwächen eliminieren“, sondern: „Was will dieser Teil von mir eigentlich sagen?“ Echte Reife entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Integration.
Archetypen: Wir sind mehr als unser Ego
In der Tiefe unserer Psyche wirken universelle Muster – Archetypen. Der Held, das Kind, die Mutter, der Weise, der Trickster. Sie sind wie Rollen in einem Theaterstück, das in uns aufgeführt wird. Wer sich nur mit einer Rolle identifiziert, wird irgendwann innerlich eng. Wer erkennt, dass er viele innere Stimmen beherbergt, kann flexibler, weicher – und paradoxerweise klarer führen und leben.
Heilung ist nicht Selbstoptimierung
Das vielleicht Unbequemste an Jungs Denken: Es lässt sich nicht als 5‑Schritte-Anleitung aufbereiten. Es ist kein Tool, sondern ein Weg. Ein Weg, der durch Zweifel, Unsicherheit und manchmal durch das Dunkel führt. Aber genau dort – nicht im Lichtkegel des „High Performance Coaching“ – wartet die größte Kraft: die Verbindung mit dem, was wir in uns selbst vergessen haben.
Fazit:
Wer ernsthaft wachsen will, braucht mehr als Filter und Formate. Er braucht Tiefe. Und Tiefe braucht Mut. Der Mut, sich selbst zu begegnen – jenseits von Likes, Labels und Leistungszwang. Vielleicht ist das der eigentliche Gamechanger: nicht noch eine neue Methode, sondern eine alte Einsicht – dass der Weg zu uns selbst durch das führt, was wir am meisten vermeiden.