Was ist Tuckmans Phasenmodell der Teamentwicklung?

Kennst du das? Ein neues Team star­tet voller Eupho­rie, dann kracht es plötz­lich gewal­tig, und du denkst: “Das wird nie was.” Genau diese Erfah­rung hat Bruce Tuck­man 1965 in seinem berühm­ten Phasen­mo­dell beschrie­ben. Ursprüng­lich waren es vier Phasen – Forming, Stor­ming, Norming und Performing – später kam noch eine fünfte dazu: Trans­forming.

Die gute Nach­richt: Das Chaos ist normal. Sogar notwen­dig. Tuck­mans Modell zeigt, dass Teams einen vorher­sag­ba­ren Entwick­lungs­weg durch­lau­fen. Und wenn du diesen Weg kennst, kannst du als Coach Teams dabei helfen, schnel­ler und gesün­der durch die schwie­ri­gen Phasen zu kommen.

Das Phasen­mo­dell ist keine starre Abfolge, die Teams mecha­nisch abar­bei­ten. Es ist eher wie eine Land­karte, die zeigt, wo ihr gerade steht und was als nächs­tes kommen könnte. Manche Teams sprin­gen zwischen den Phasen hin und her, andere blei­ben in einer Phase hängen. Aber die Grund­dy­na­mi­ken erkennst du immer wieder.

Phase 1: Forming – Die Höflichkeitsfalle

In der Forming-Phase sind alle noch auf Tuch­füh­lung. Die Team­mit­glie­der lernen sich kennen, sind höflich zuein­an­der und versu­chen heraus­zu­fin­den, worum es über­haupt geht. Ober­fläch­lich betrach­tet läuft alles harmo­nisch – aber das ist trüge­risch.

Was du in der Forming-Phase erlebst:

  • Alle sind moti­viert und gespannt auf das Projekt
  • Die Kommu­ni­ka­tion ist höflich und ober­fläch­lich
  • Konflikte werden vermie­den oder über­spielt
  • Die Rollen sind noch unklar
  • Man orien­tiert sich stark an der Führungs­kraft oder dem Coach
  • Entschei­dun­gen werden nicht wirk­lich gemein­sam getrof­fen

Die Forming-Phase fühlt sich gut an, aber sie ist auch gefähr­lich. Viele Teams denken, sie seien schon ein echtes Team, weil es so harmo­nisch zugeht. In Wirk­lich­keit kennen sie sich noch gar nicht rich­tig.

Praxis­bei­spiel: Ein neues Projekt­team in einer Werbe­agen­tur soll eine Kampa­gne entwi­ckeln. Alle nicken begeis­tert, wenn der Projekt­lei­ter seine Ideen vorstellt. Kriti­sche Fragen werden nicht gestellt, weil niemand als Spiel­ver­der­ber daste­hen will. Das Team fühlt sich super – bis drei Wochen später alles explo­diert.

Phase 2: Storming – Willkommen in der Realität

Die Stor­ming-Phase ist die härteste, aber auch die wich­tigste Phase. Hier zeigen die Menschen ihr wahres Gesicht, Konflikte brechen auf, und die schöne Harmo­nie der Forming-Phase zerplatzt wie eine Seifen­blase.

Typi­sche Stor­ming-Dyna­mi­ken:

  • Konflikte um Arbeits­wei­sen und Prio­ri­tä­ten
  • Macht­kämpfe zwischen star­ken Persön­lich­kei­ten
  • Kritik an der Führung oder den getrof­fe­nen Entschei­dun­gen
  • Zwei­fel am Projekt oder den gemein­sa­men Zielen
  • Emotio­nale Reak­tio­nen und persön­li­che Angriffe
  • Cliquen­bil­dung und Lager­den­ken

Viele Teams und ihre Coaches bekom­men in der Stor­ming-Phase Panik. “Das Team funk­tio­niert nicht!” ist ein häufi­ger Gedanke. Aber Stor­ming ist kein Zeichen für Versa­gen – es ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen anfan­gen, authen­tisch zu werden.

Die Stor­ming-Phase kann Tage dauern oder Monate. Manche Teams blei­ben sogar für immer darin stecken. Der Unter­schied liegt daran, wie konstruk­tiv mit den Konflik­ten umge­gan­gen wird.

Praxis­bei­spiel: Im Werbe­team bricht der Streit auf: Der Krea­tive findet die Ideen des Stra­te­gen lang­wei­lig, die Projekt­ma­na­ge­rin ist genervt vom chao­ti­schen Arbeits­stil des Krea­ti­ven, und der Texter fühlt sich über­gan­gen. Plötz­lich wird alles infrage gestellt – die Kampa­gne, die Termine, sogar die Berech­ti­gung des Projekt­lei­ters.

Phase 3: Norming – Regeln finden, die für alle funktionieren

Wenn ein Team die Stor­ming-Phase über­lebt hat, kommt das Norming. Hier entwi­ckeln die Team­mit­glie­der gemein­same Spiel­re­geln und Arbeits­wei­sen. Die Konflikte sind nicht verschwun­den, aber es gibt jetzt Wege, konstruk­tiv damit umzu­ge­hen.

Was in der Norming-Phase passiert:

  • Gemein­same Stan­dards für Kommu­ni­ka­tion und Zusam­men­ar­beit entste­hen
  • Rollen und Verant­wort­lich­kei­ten werden klarer
  • Ein “Team-Gefühl” entwi­ckelt sich
  • Unter­schiede werden akzep­tiert statt bekämpft
  • Feed­back-Kultur entsteht
  • Entschei­dungs­pro­zesse werden etabliert

Die Norming-Phase ist oft geprägt von inten­si­ven Gesprä­chen. Das Team reflek­tiert, was in der Stor­ming-Phase passiert ist, und entwi­ckelt bewusst neue Verein­ba­run­gen. Oft entste­hen hier auch emotio­nale Momente – Entschul­di­gun­gen, neue Wert­schät­zung fürein­an­der, gemein­same Aha-Erleb­nisse.

Praxis­bei­spiel: Das Werbe­team setzt sich zusam­men und spricht offen über die vergan­ge­nen Konflikte. Sie entwi­ckeln gemein­same Regeln: Der Krea­tive bekommt mehr Frei­raum für seine Arbeits­weise, dafür hält er die abge­spro­che­nen Termine ein. Der Stra­tege erklärt seine Ideen verständ­li­cher, bekommt aber auch ehrli­ches Feed­back zu deren Umsetz­bar­keit. Die Projekt­ma­na­ge­rin führt tägli­che Kurz-Meetings ein, die allen helfen, den Über­blick zu behal­ten.

Phase 4: Performing – Jetzt läuft der Motor

In der Performing-Phase funk­tio­niert das Team wie ein gut geöl­ter Motor. Die Zusam­men­ar­beit ist einge­spielt, Konflikte werden konstruk­tiv gelöst, und die Ergeb­nisse stim­men. Hier entste­hen die Stern­stun­den der Team­ar­beit.

Merk­male der Performing-Phase:

  • Hohe Produk­ti­vi­tät und Quali­tät der Arbeit
  • Flexi­ble Rollen­ver­tei­lung je nach Situa­tion
  • Selbst­or­ga­ni­sa­tion funk­tio­niert
  • Konstruk­ti­ver Umgang mit Meinungs­ver­schie­den­hei­ten
  • Unter­stüt­zung und Vertrauen unter­ein­an­der
  • Gemein­same Verant­wor­tung für Erfolg und Miss­erfolg
  • Inno­va­tion und Krea­ti­vi­tät entste­hen

Die Performing-Phase ist das, was sich die meis­ten unter “gutem Team­work” vorstel­len. Aber sie ist kein Dauer­zu­stand. Teams können wieder in frühere Phasen zurück­fal­len – beson­ders wenn sich die Rahmen­be­din­gun­gen ändern oder neue Mitglie­der dazu­kom­men.

Praxis­bei­spiel: Das Werbe­team läuft wie geschmiert. Jeder weiß, was von ihm erwar­tet wird, aber alle sind auch bereit, über ihre Rolle hinaus­zu­ge­hen, wenn es nötig ist. Wenn ein Problem auftaucht, wird es direkt ange­spro­chen und gelöst. Die Kampa­gne wird nicht nur termin­ge­recht fertig, sondern gewinnt auch noch einen Preis.

Phase 5: Transforming – Das Ende als Neuanfang

Die fünfte Phase, das Trans­forming (früher auch “Adjour­ning” genannt), beschreibt die Auflö­sung des Teams. Das klingt trau­rig, ist aber ein natür­li­cher Teil des Team­zy­klus. Projekte enden, Teams werden neu zusam­men­ge­stellt, Menschen verlas­sen das Unter­neh­men.

Was in der Trans­forming-Phase wich­tig ist:

  • Bewuss­ter Abschied vom gemein­sa­men Arbei­ten
  • Refle­xion über Erfolge und Lear­nings
  • Wert­schät­zung für die gemein­same Zeit
  • Klärung offe­ner Punkte
  • Über­gabe von Wissen und Erfah­run­gen
  • Emotio­nale Verar­bei­tung des Endes

Die Trans­forming-Phase wird oft vernach­läs­sigt oder hastig abge­han­delt. Dabei ist sie wich­tig für den emotio­na­len Abschluss und für die persön­li­che Weiter­ent­wick­lung der Team­mit­glie­der.

Praxis­bei­spiel: Nach dem erfolg­rei­chen Kampa­gnen­ab­schluss nimmt sich das Werbe­team Zeit für eine ausführ­li­che Retro­spek­tive. Sie feiern ihre Erfolge, spre­chen über das Gelernte und verab­schie­den sich bewusst vonein­an­der. Viele der entwi­ckel­ten Arbeits­wei­sen nehmen sie mit in neue Teams.

Wie du als Coach Teams durch die Phasen begleitest

Jede Phase braucht andere Inter­ven­tio­nen von dir als Coach:

In der Forming-Phase hilfst du dabei:

  • Klare Ziele und Erwar­tun­gen zu defi­nie­ren
  • Rollen und Verant­wort­lich­kei­ten zu klären
  • Kennen­lern­pro­zesse zu vertie­fen
  • Ober­fläch­lich­keit aufzu­bre­chen

In der Stor­ming-Phase unter­stützt du durch:

  • Konflikte mode­rie­ren statt vermei­den
  • Emotio­nen ernst nehmen und kana­li­sie­ren
  • Gemein­same Basis trotz Unter­schiede finden
  • Durch­hal­te­ver­mö­gen stär­ken (“Das ist normal!”)

In der Norming-Phase beglei­test du bei:

  • Verein­ba­run­gen entwi­ckeln und doku­men­tie­ren
  • Feed­back-Prozesse etablie­ren
  • Team-Iden­ti­tät stär­ken
  • Nach­jus­tie­run­gen der Regeln

In der Performing-Phase sorgst du für:

  • Weiter­ent­wick­lung statt Still­stand
  • Refle­xion der Arbeits­weise
  • Vorbe­rei­tung auf neue Heraus­for­de­run­gen
  • Erhal­tung der Team-Ener­gie

In der Trans­forming-Phase hilfst du beim:

  • Bewuss­ten Abschied gestal­ten
  • Lear­nings doku­men­tie­ren
  • Wert­schät­zung ausdrü­cken
  • Über­gänge in neue Teams

Typische Fallen im Umgang mit dem Phasenmodell

Die größte Falle ist der Glaube, Teams müss­ten alle Phasen schnell durch­lau­fen. Manche Coaches versu­chen, die Stor­ming-Phase zu über­sprin­gen oder zu verkür­zen. Das funk­tio­niert nicht – die Konflikte kommen später umso hefti­ger zurück.

Eine andere Falle ist das mecha­ni­sche Abar­bei­ten der Phasen. Tuck­mans Modell ist ein Orien­tie­rungs­rah­men, kein Rezept­buch. Jedes Team ist anders und braucht indi­vi­du­elle Unter­stüt­zung.

Viele unter­schät­zen auch, dass Teams bei Verän­de­run­gen wieder in frühere Phasen zurück­fal­len können. Ein neues Team­mit­glied, ein geän­der­tes Ziel oder ein neuer Chef – und schon bist du wieder beim Forming oder sogar Stor­ming.

Wann Tuckmans Modell besonders hilfreich ist

Das Phasen­mo­dell ist beson­ders wert­voll bei:

Neu zusam­men­ge­stell­ten Teams: Wenn Menschen zum ersten Mal zusam­men­ar­bei­ten, hilft das Modell dabei, realis­ti­sche Erwar­tun­gen zu setzen.

Teams in der Krise: Wenn ein Team in Konflik­ten fest­steckt, zeigt das Modell, dass das normal ist und wie es weiter­ge­hen kann.

Lang­zeit­pro­jek­ten: Bei Projek­ten, die über Monate oder Jahre laufen, durch­le­ben Teams oft mehrere Zyklen der Phasen.

Führungs­kräfte-Entwick­lung: Mana­ger lernen zu verste­hen, dass ihre Rolle sich je nach Team­phase ändern muss.

Change-Prozes­sen: Wenn sich Orga­ni­sa­tio­nen verän­dern, fallen Teams oft in frühere Entwick­lungs­pha­sen zurück.

Die Grenzen des Phasenmodells

Tuck­mans Modell ist hilf­reich, aber nicht allge­mein­gül­tig. Manche Teams entwi­ckeln sich spiral­för­mig, andere über­sprin­gen Phasen oder blei­ben dauer­haft in einer Phase stecken. Virtu­elle Teams oder sehr erfah­rene Teams können auch ganz andere Entwick­lungs­ver­läufe haben.

Außer­dem stammt das Modell aus den 1960ern und berück­sich­tigt moderne Arbeits­for­men nur bedingt. Agile Teams, die in Sprints arbei­ten, oder Teams mit stark wech­seln­der Beset­zung passen nicht immer ins klas­si­sche Schema.

Das Modell kann auch als Ausrede miss­braucht werden: “Wir sind halt in der Stor­ming-Phase” recht­fer­tigt nicht destruk­ti­ves Verhal­ten oder schlechte Führung.

Dein Team-Check: In welcher Phase steckt ihr?

Schau dir ein Team an, das du kennst oder beglei­test:

Forming-Indi­ka­to­ren:

  • Höflich­keit steht über Ehrlich­keit
  • Wenig kontro­verse Diskus­sio­nen
  • Orien­tie­rung an Auto­ri­tä­ten
  • Unklar­heit über Rollen und Ziele

Stor­ming-Indi­ka­to­ren:

  • Offene oder versteckte Konflikte
  • Infra­ge­stel­lung von Entschei­dun­gen
  • Emotio­nale Reak­tio­nen
  • Cliquen­bil­dung

Norming-Indi­ka­to­ren:

  • Inten­sive Diskus­sio­nen über Zusam­men­ar­beit
  • Entwick­lung gemein­sa­mer Regeln
  • Stär­ke­res “Wir-Gefühl”
  • Konstruk­ti­ver Umgang mit Unter­schie­den

Performing-Indi­ka­to­ren:

  • Hohe Produk­ti­vi­tät
  • Flexi­ble Rollen­ver­tei­lung
  • Selbst­or­ga­ni­sa­tion funk­tio­niert
  • Konstruk­tive Konflikt­lö­sung

Trans­forming-Indi­ka­to­ren:

  • Projekt-Ende in Sicht
  • Refle­xion über die gemein­same Zeit
  • Vorbe­rei­tung auf Tren­nung
  • Über­gabe von Verant­wor­tung

Wo siehst du das Team? Und was braucht es, um zur nächs­ten Phase zu kommen?

Fazit: Der Weg ist das Ziel

Tuck­mans Phasen­mo­dell zeigt uns eine wich­tige Wahr­heit: Gute Team­ar­beit entsteht nicht von selbst. Teams müssen sich entwi­ckeln, und diese Entwick­lung ist manch­mal schmerz­haft. Aber genau das macht sie wert­voll.

Als Coach ist es dein Job, Teams durch diese Entwick­lung zu beglei­ten – nicht um sie zu beschleu­ni­gen, sondern um sie bewuss­ter und konstruk­ti­ver zu gestal­ten. Jede Phase hat ihre Berech­ti­gung und ihre Geschenke.

Die Forming-Phase lehrt uns Neugier und Offen­heit. Stor­ming zeigt uns unsere Unter­schiede und Gren­zen. Norming hilft uns, Kompro­misse zu finden und gemein­same Wege zu entwi­ckeln. Performing lässt uns erle­ben, was möglich ist, wenn Menschen wirk­lich zusam­men­ar­bei­ten. Und Trans­forming lehrt uns, loszu­las­sen und Neues zu begin­nen.

Viel­leicht ist das die wich­tigste Erkennt­nis: Ein Team zu sein bedeu­tet nicht, immer einer Meinung zu sein. Es bedeu­tet, gemein­sam durch alle Phasen zu gehen – durch die schö­nen und die schwie­ri­gen. Und genau das macht die Reise so lohnens­wert.

Buchtipp

Ein häufig empfoh­le­ner Klas­si­ker, der sich mit den Heraus­for­de­run­gen und Dysfunk­tio­nen in Teams ausein­an­der­setzt, ist “Die 5 Dysfunk­tio­nen eines Teams” von Patrick M. Lencioni. Obwohl es nicht direkt Tuck­mans Phasen­mo­dell behan­delt, beschreibt es in Form einer Fabel, wie eine Prot­ago­nis­tin die grund­le­gen­den Defi­zite in der Team­ar­beit erkennt und behebt, was thema­tisch eng mit der Team­ent­wick­lung und den Phasen nach Tuck­man verwandt ist.