Lange Zeit dachte ich: Ich bin einfach „zu viel”. Zu emotio­nal, zu dünn­häu­tig, zu irgend­was.

Beruf­lich war davon wenig zu spüren.

Als Key Account Mana­ge­rin konnte ich Kunden­wün­sche oft formu­lie­ren, bevor sie selbst genau wuss­ten, was sie brauch­ten. Brie­fings lagen „in der Luft” – ich habe sie gespürt. Zwischen­töne, Blicke, Span­nun­gen im Raum: Ich musste nicht viel hören, um zu verste­hen, worum es eigent­lich geht.

Privat war es ähnlich:

Menschen such­ten meinen Rat, kamen mit Sorgen, Entschei­dun­gen, Lebens­fra­gen. Ich war intui­tiv oft genau die rich­tige Hilfe – ohne große Metho­den, ohne Konzepte.

Und trotz­dem fühlte sich mein Innen­le­ben häufig an wie ein falscher Film.

Die Kehrseite: Wenn fremde Emotionen zur eigenen Last werden

Auf der ande­ren Seite dieser Stärke stand etwas, das ich lange nicht benen­nen konnte:

Ich fühlte mich plötz­lich schlecht, ohne erkenn­ba­ren Grund.

  • Tiefe Trau­rig­keit, obwohl in meinem eige­nen Leben objek­tiv alles in Ordnung war.
  • Wenn jemand weinte, weinte ich mit.
  • Wenn jemand wütend war, bekam ich einen Knoten im Bauch.
  • Wenn jemand gestresst war, wurde ich inner­lich unru­hig – selbst an Tagen ohne eige­nen Stress.

Von außen bekam das Etiket­ten:

„Dünn­häu­tig.”
„Zart­be­sai­tet.”
„Über­emp­find­lich.”
„Zickig.”

Mit der Zeit habe ich diese Zuschrei­bun­gen über­nom­men.

Die logi­sche Konse­quenz: Ich versuchte, „das Problem” zu lösen – und sah das Problem in mir.

Kanada, Huskies und der Versuch, vor sich selbst zu fliehen

Die Anstren­gung wurde so groß, dass ich eine Auszeit nahm.

Kanada, drei bis vier Monate, Huskies. Beschei­dene Umstände, harte körper­li­che Arbeit, Fokus auf das Nötigste.

Und plötz­lich ging es mir besser.

Weni­ger Menschen, weni­ger Reize, weni­ger unaus­ge­spro­chene Themen.
Mehr Natur, mehr Klar­heit, klare Aufga­ben.

Damals habe ich das nicht als Signal verstan­den.

Ich deutete es als Bedürf­nis nach Aben­teuer, nach „etwas ande­rem”, nach körper­li­cher Arbeit in weiter Land­schaft.

Zurück im Alltag folg­ten mehrere Jobwech­sel, ein Studium, immer wieder der Versuch, mich besser anzu­pas­sen – an Struk­tu­ren, an Erwar­tun­gen, an Umfel­der.

Erst im Rahmen einer super­vi­so­ri­schen Zertif­zie­rung meiner Coachingaus­bil­dung bekam das, was ich erlebte, einen ganz nüch­ter­nen Namen: Hoch­sen­si­bi­li­tät.

Mitte 30: Wenn ein Begriff plötzlich das ganze Leben erklärt

Die Erkennt­nis, hoch­sen­si­bel zu sein, war ein Einschnitt.

Nicht im Sinne einer modi­schen Selbst­be­schrei­bung, sondern im Sinne eines Persön­lich­keits­merk­mals: mehr Input, tiefere Verar­bei­tung, stär­kere emotio­nale Reso­nanz.

Diese Einsicht löste drei Dinge aus:

  • Erleich­te­rung – endlich eine Erklä­rung.
  • Trau­rig­keit – die Frage, warum das niemand früher so auf den Punkt gebracht hat.
  • Dank­bar­keit – über die Ener­gie, die in den Versuch geflos­sen war, „normal” zu funk­tio­nie­ren.

Damit verschob sich die Perspek­tive:

Nicht mehr „Was stimmt nicht mit mir?”, sondern:
„Wie gehe ich mit dem um, was offen­sicht­lich da ist?”

Aus Überforderung wird Fähigkeit

Seit ich weiß, dass ich hoch­sen­si­bel bin, hat sich meine innere Logik verän­dert.

Eine der zentra­len Fragen lautet heute: Wem gehört dieses Gefühl gerade?

Ist es meine Trau­rig­keit – oder die meines Gegen­übers?
Ist es mein Stress – oder der einer ande­ren Person?
Reagiere ich auf die Situa­tion im Raum – oder auf die gesamte Geschichte dahin­ter?

Statt auto­ma­tisch in Emotio­nen ande­rer einzu­stei­gen, halte ich kurz inne.

Ich nutze meine Sensi­bi­li­tät bewusst:

Ich filtere über Fragen heraus, was mein Gegen­über wirk­lich braucht – nicht nur, was auf der Ober­flä­che formu­liert wird.

Ich ziehe klare innere und äußere Gren­zen: Die Gefühls­lage eines Raumes ist nicht meine allei­nige Verant­wor­tung.

Ich orga­ni­siere meinen Alltag anders – mit bewuss­ten Reiz­pau­sen statt Dauer­feuer aus Meetings, Erwar­tun­gen und unaus­ge­spro­che­nen Konflik­ten.

Aus dem diffu­sen „Ich fühle alles” ist ein geziel­tes Instru­ment gewor­den.

Hochsensibilität als Ressource in der Lebensmitte

In der Lebens­mitte, wenn viele begin­nen, Bilanz zu ziehen, kann die Diagnose „Ich bin hoch­sen­si­bel” irri­tie­ren – und gleich­zei­tig vieles erklä­ren:

Warum bestimmte Jobs nie lange funk­tio­niert haben.
Warum man in manchen Teams als „kompli­ziert” galt und gleich­zei­tig als Seis­mo­graph für das Klima.
Warum man in Krisen glänzt, aber im dauer­haf­ten Trubel aus Poli­tik und Meetings ausbrennt.

Genau hier liegt das Poten­zial:

Hoch­sen­si­bi­li­tät ist kein Defekt.

Das Problem entsteht dann, wenn sie unbe­kannt bleibt, nicht gesteu­ert wird und auf Umge­bun­gen trifft, die perma­nent über Reiz- und Werte­gren­zen gehen.

Heute ist diese Sensi­bi­li­tät für mich eine klare Ressource:

Im Umgang mit Kundin­nen und Kunden.
In Verän­de­rungs­pro­zes­sen.
In Führungs­si­tua­tio­nen, in denen es um mehr geht als um Zahlen – nämlich um Kultur, Dyna­mi­ken und unaus­ge­spro­chene Span­nun­gen.

Der entschei­dende Unter­schied zu früher:
Sie steu­ert nicht mehr mich. Ich entscheide, wie und wo ich sie einsetze.

Ein stilles, aber wirksames Korrektiv

Hoch­sen­si­bi­li­tät in der Lebens­mitte ist keine Störung, die es zu behe­ben gilt, sondern ein stil­les, oft über­se­he­nes Korrek­tiv: für Entschei­dun­gen, für Bezie­hun­gen, für Orga­ni­sa­tio­nen.

Dort, wo Menschen inten­siv wahr­neh­men, wo sie Zwischen­töne regis­trie­ren und Stim­mun­gen ernst nehmen, entste­hen oft die Fragen, die andere lieber nicht stel­len.

Es kann anstren­gend sein, so viel zu fühlen.

Aber es kann – mit dem rich­ti­gen Bewusst­sein und den passen­den Gren­zen – zu einer der wert­volls­ten Fähig­kei­ten werden, die man in einer komple­xen, lauten Welt mitbringt.