Wie wir Hoch­sen­si­bi­li­tät besser verste­hen und warum es hilft, einen Unter­schied zu kennen.

Viele Menschen kennen diesen Satz, ausge­spro­chen, unaus­ge­spro­chen, gehört, erfah­ren, erlebt:
“Du bist einfach zu sensi­bel!”

Wer fein fühlt und stark reagiert, fragt sich irgend­wann, woher diese Tiefe kommt.
“Ist das einfach meine Art zu sein, oder einen Folge von etwas, das mich geprägt hat?”

Um sich selbst und andere besser zu verste­hen, lohnt sich ein Blick auf zwei verschie­dene Wurzeln:

  • Ange­bo­rene Hoch­sen­si­bi­li­tät, in der Forschung als Sensory Proces­sing Sensi­ti­vity (SPS) bezeich­net und
  • Erlernte Sensi­ti­vi­tät, die sich aus wieder­keh­ren­der Belas­tung oder Trauma entwi­ckeln kann.

Hochsensibilität — die angeborene Tiefe

Hoch­sen­si­bi­li­tät ist keine Diagnose, sondern ein Tempe­ra­ments­merk­mal, das rund 15–20% der Menschen betrifft.
Das Nerven­sys­tem reagiert dabei tiefer und diffe­ren­zier­ter auf Reize. Studien zeigen, dass etwas 47% dieser Sensi­ti­vi­tät gene­tisch veran­lagt sind.

Neuro­wis­sen­schaft­lich belegt: Hoch­sen­si­ble Perso­nen zeigen verstärkte Akti­vi­tät in Gehirn­re­gio­nen, die für Empa­thie, Reiz­ver­ar­bei­tung und soziale Wahr­neh­mung zustän­dig sind. Das bedeu­tet: Hoch­sen­si­ble Menschen nehmen mehr wahr, emotio­nal, zwischen­mensch­lich, senso­risch.

Diese Tiefe kann im Berufs­all­tag zu einer echten Ressource werden: Fein­füh­lige Menschen erken­nen Stim­mun­gen im Team, unter­schwel­lige Konflikte oder unaus­ge­spro­chene Bedürf­nisse oft früher als andere. Ihre Empa­thie, ihr Detail­blick und ihre Refle­xi­ons­fä­hig­keit sind wert­voll wenn sie lernen, Ener­gie und Reiz­in­ten­si­tät zu balan­cie­ren.

Wenn Sensibilität aus Schutz entsteht

Manche Menschen erle­ben Sensi­bi­li­tät als Last, nicht als Stärke. Sie sind stän­dig in Alarm­be­reit­schaft, reagie­ren über­mä­ßig stark auf Geräu­sche, Stim­mun­gen oder Druck. Das kann nach außen wie Hoch­sen­si­bi­li­tät wirken, ist aber oft etwas ande­res: eine Schutz­re­ak­tion des Nerven­sys­tems nach Belas­tung, Über­for­de­rung oder Trauma. Trau­ma­for­schung zeigt, dass das Stress­sys­tem sich dabei “umstellt”. Es bleibt wach­sam, selbst wenn keine Gefahr mehr besteht. Die Form der Über­emp­find­lich­keit ist erlernt, nicht ange­bo­ren und damit grund­sätz­lich verän­der­bar, wenn Sicher­heit, Stabi­li­tät und emotio­nale Beglei­tung entste­hen.

Im Arbeits­kon­text kann das bedeu­ten: Menschen mit traum­age­präg­ter Sensi­ti­vi­tät brau­chen klare Struk­tu­ren, trans­pa­rente Kommu­ni­ka­tion und Räume, in denen sie sich sicher fühlen dürfen. Sie brin­gen oft ein außer­ge­wöhn­li­ches Gespür für Stim­mun­gen mit, aber erst, wenn das System nicht im Dauer­stress ist.

Warum es hilfreich ist, den Unterscheid zu kennen

Es geht nicht darum, Etiket­ten zu verge­ben. Es geht darum, bewuss­ter zu verste­hen, was in uns reagiert und warum bzw. wozu. Wer weiß, dass seine Sensi­bi­li­tät biolo­gisch ange­legt ist, kann lernen mit ihr zu leben, statt gegen sie zu kämp­fen. Und wer erkennt, dass sie aus Schutz entstan­den ist, kann Wege finden, das Nerven­sys­tem Schritt für Schritt zu beru­hi­gen.

Im Busi­ness-Kontext ist dieses Bewusst­sein Gold wert: Führungs­kräfte, die ihre eigene Sensi­ti­vi­tät oder die ihrer Mitar­bei­ten­den verste­hen, schaf­fen Umfel­der, in denen Tiefe, Klar­heit und Vertrauen wach­sen können. Teams profi­tie­ren, wenn Emotio­nen nicht bewer­tet, sondern verstan­den werden.

Wie du deinen Weg finden kannst

Refle­xion hilft, den Ursprung deiner Sensi­bi­li­tät zu erkun­den:

  • Wann fühlst du dich über­reizt? Und wodurch?
  • Wann empfin­dest du Tiefe als Berei­che­rung?
  • Welche Situa­tio­nen brin­gen dich dauer­haft in Alarm­be­reit­schaft?

Ein Tage­buch über Auslö­ser, Ener­gie und Erho­lung kann Klar­heit brin­gen. Auch der HSPS-Kurz­test nach Aron (1997) bietet erste Orien­tie­rung.

Profes­sio­nelle Beglei­tung, ob Coaching oder Thera­pie hilft, Sensi­bi­li­tät zu verste­hen und in gesunde Bahnen zu lenken. Im Coaching kann der Fokus z.B. auf Selbst­re­gu­la­tion, Ener­gie­ma­nage­ment und Gren­zen liegen. In thera­peu­ti­schen Settings geht es um die Heilung von Über­las­tung oder Trauma, wenn das Nerven­sys­tem selbst Schutz braucht.

Für  Unternehmen und Führungskräfte

Sensi­bi­li­tät ist längst ein Faktor moder­ner Führung.

In diver­sen Teams bringt sie Balance zwischen Leis­tung und Acht­sam­keit. Hoch­sen­si­ble Mitar­bei­tende reagie­ren oft stark auf Über­las­tung, aber auch beson­ders posi­tiv auf unter­stüt­zende Umfel­der: Ein Prin­zip, das in der Forschung als Vantage Sensi­ti­vity beschrie­ben wird. Das bedeu­tet: Gute Rahmen­be­din­gun­gen wirken bei sensi­blen Menschen über­pro­por­tio­nal posi­tiv. Ein acht­sa­mes Umfeld stei­gert Krea­ti­vi­tät, Loya­li­tät und emotio­nale Intel­li­genz. Fähig­kei­ten, die in der heuti­gen Arbeits­welt entschei­dend sind.

Fazit

Hoch­sen­si­bi­li­tät ist kein Trend, sondern Teil mensch­li­cher Viel­falt. Manche Menschen werden mit einer tiefen Wahr­neh­mung gebo­ren. Andere entwi­ckeln sie, weil das Leben sie aufmerk­sam gemacht hat.
Beides ist echt.
Beides braucht Verste­hen.
Und beides kann mit der rich­ti­gen Beglei­tung zu Stärke werden.


Quel­len & weiter­füh­rende Lite­ra­tur

  • Aron, e. & Aron a. (1997): Highly Sensi­tive Person Scale (HSPS)
    • Origi­nal­skala und theo­re­ti­sche Einfüh­rung in des Konzept der Hoch­sen­si­bi­li­tät
    • hsperson.com
  • Lionetti, F. et al. (2024): Sensory Proces­sing Sensi­ti­vity: A heri­ta­ble and evolu­tio­na­rily conser­ved trait
  • Acevedo, B. et al. (2014): The Highly Sensi­tive Brain: An fMRRI Study. Brain & Beha­vior
  • Pluess, M. & Belsky, J. (2013): Vantage Sensi­ti­vity: Indi­vi­dual Diffe­ren­ces in Response to Posi­tive Expe­ri­en­ces.
    • Psycho­lo­gi­cal Bulle­tin
  • Greven, C. et al. (2019): Sensory Proces­sing Sensi­ti­vity in the Context of Envi­ron­men­tal Sensi­ti­vity: A Criti­cal Review and Deve­lo­p­men­tal Frame­work. Neuro­sci­ence & Biobe­ha­vi­oral Reviews
  • Current Opinion in Psycho­logy (2022): Sensory Dysre­gu­la­tion and Trauma: Current Findings in Stress Neuro­sci­ence